Review: Night in the Woods

Night in the Woods. 8 von 10 Punkten

Dieses Review spoilert wichtige Elemente der Handlung von Night in the Woods. Ein spoilerfreies Fazit wartet am Ende.

Night in the Woods ist der erste und bisher einzige Titel des kanadischen Studios Infinite Fall. Vor 10 Jahren hätte man sich wohl darum gestritten, ob es überhaupt als Videospiel durchgeht. Heute findet es im Genre der „Storygames“ ein passendes Zuhause und als solches möchte ich es auch bewerten. Es gibt zwar weder eine Progression, noch die Möglichkeit mechanisch zu scheitern (außer in zwei Minigames, die keinerlei Auswirkung auf die Haupthandlung haben), dafür aber eine Unzahl bedeutender Entscheidungen zu treffen, die durch die Interaktivität an Gewicht gewinnen. Night in the Woods scheut sich nämlich weder vor schwierigen Themen noch unangenehmen Wahrheiten, wie dass unsere Protagonisten nicht immer gute Menschen sind…

Apropos Menschen: Night in the Woods ist kein AAA-Titel, sondern kommt mit stilisierter 2D-Grafik aus. Die Figuren sind anthropomorphe Tiere und auch ansonsten wird mit grobem Pinsel gezeichnet. Das tut der Sache aber keinen Abbruch, denn sowohl der Grafikstil als auch die musikalische Untermalung sind sehr stimmungsvoll und dem Gesamterlebnis zuträglich.

Eine Geschichte von Freundschaft und Fremdheit

Night in the Woods erzählt die Geschichte von Mae Borowski, einer 20-jährigen Studienabbrecherin, die zurück zu ihren Eltern nach Possum Springs im Rust Belt zieht. Dort angekommen muss sie feststellen, dass die Welt sich in den letzten beiden Jahren ohne sie weiter gedreht hat:

Der Supermarkt im Ort hat geschlossen und ihr Vater arbeitet nicht mehr in der Fabrik, sondern im Einzelhandel. Für die Schulkinder ist sie eine Erwachsene, für ihre alten Nachbarn eine verzogene Göre. Ihre Freunde sind nicht aufs College gegangen und arbeiten nun in Mindestlohnjobs oder haben das Familiengeschäft übernommen. Ein gemeinsamer Freund, Casey, ist in der Zwischenzeit auf mysteriöse Weise verschwunden. Die Reaktionen auf ihre Rückkehr reichen von Begeisterung bis vorsichtigem Misstrauen.

Statt ins warme Nest zurückzukehren, fühlt Mae sich wie ein Fremdkörper: Niemand hat so recht Zeit für sie und auch sie weiß nichts mit sich anzufangen. Einzig ihr bester Kumpel Gregg ist sofort Feuer und Flamme, was aber ebenfalls Ärger macht: Zusammen mit seinem Lebensgefährten Angus spart Gregg gerade eigentlich Geld an, um aus Possum Springs fortzuziehen, wo sie als einziges queeres Paar nicht viel Freude haben. Greggs Motivation Zusatzschichten zu schieben verpufft jedoch schlagartig, als Mae zurückkehrt.

Zu ihrer Kindheitsfreundin Bea findet sie noch weniger Zugang und muss feststellen, dass sie ein wichtiges Ereignis aus Beas Jugend verdrängt hat. Ihre Beziehung kühlt noch weiter ab, bevor Gelegenheit besteht die Risse zu kitten.

Erst als die vier Freunde nach einer gemeinsamen Bandprobe (der alten Zeiten wegen!) einen abgetrennten Arm finden und beschließen der Sache auf den Grund zu gehen, haben sie einen Anlass, wieder mehr gemeinsam zu tun.

Von links nach rechts: Germ, Bea, Angus, Mae und Gregg bei der Bandprobe.
Screenshot von pcworld.com

Ein Spiel um Aufmerksamkeit und Anerkennung

Im Spielverlauf gilt es zu entscheiden mit welchem unserer Freunde wir Zeit verbringen. Jede Entscheidung für eine:n von ihnen bedeutet aber auch, dass wir keine Zeit für die anderen haben. Dabei hat jede:r viel zu erzählen, sei es aus den vergangenen zwei Jahren oder über prägende Erlebnisse ihrer Kindheit oder Jugend, über die sie erst jetzt reden können. Welche Geschichte wollen wir erfahren, welche bleiben unerzählt? Night in the Woods macht einem diese Entscheidungen nicht leicht, denn so unterschiedlich die Figuren sind, sie sind alle vielschichtig und faszinierend.

In Possum Springs treffen wir viele weitere Nebenfiguren, die ebenfalls um ihren Platz in der Welt ringen: Die Pastorin zofft sich mit dem Stadtrat, im Wald hinter der Kirche campiert ein Obdachloser und die Callcenter-Mitarbeiter unterhalten sich jeden Tag darüber wie mies ihr Job ist. Nach einigen Tagen erfahren wir, dass Maes Eltern finanzielle Probleme haben und das Haus eventuell verkaufen müssen.

Andere Bewohner haben sich mit der Situation arrangiert: Ein pensionierter Nachbar beobachtet die Sterne, ein Musiker probt in einem verlassenen Theater vor Tauben und ein ehemaliger Schulkamerad wohnt im Wald und trifft sich mit durchreisenden Hobos. Wirklich glücklich sind aber auch sie nicht und selbst die Nostalgie der Alteingesessenen täuscht nicht darüber hinweg, dass Possum Springs kaum Perspektiven bietet.

All dies bekommen wir wiederum nur mit, weil Mae keine Verpflichtungen hat. Sie treibt durch den Tag und den Ort und stolpert über diese einsamen Schicksale. Umso stärker fällt der Wunsch aus, den Anschluss zum Freundeskreis wieder zu finden.

Ein Spiel über’s erwachsen werden

Hinzu kommt, dass Mae und ihre Freunde in jenem seltsamen Alter zwischen Jugendlichen und Erwachsenen sind, in dem man ständig mit Herausforderungen konfrontiert wird, auf die einen niemand vorbereitet hat. Nach 12 Jahren Ausbildung zum professionellen Schüler findet man sich in einer fremdartigen Welt wieder, die man immer herbeisehnte, die sich bei näherer Betrachtung aber als anstrengend und beängstigend herausstellt.

Jede:r der vier Freunde geht anders mit dieser Erfahrung um und diese unterschiedlichen Lebenswege sind es auch, die sie auseinander trieben. Gregg und Angus mussten sich aus schwierigen Familien lösen, während Bea das Geschäft ihrer Eltern übernahm. Mae hatte es vergleichsweise gemütlich, da ihre Eltern ihr das Studium mitfinanzierten, wodurch ihr Scheitern ein umso tieferer Sturz ist.

All dies führt zu einer enormen Entfremdung und Haltlosigkeit und all dies erzählt Night in the Woods nicht nur, sondern lässt es uns miterlebe: Maes Entfremdung ist unserer Fremdheit, denn wir kennen ihre Freunde und Familie nicht. Ihre Angst den Anschluss an ihre Freunde zu verlieren ist unsere Sorge wichtige Teile der Handlung zu verpassen. Jeden Tag brechen wir mit der Hoffnung auf etwas neues auf und jedes Mal schwingt die Befürchtung mit, das Beste schon hinter uns zu haben. Umso angestrengter suchen wir und sind froh um jedes neue Detail, wo am Tag zuvor noch keines war. Trotzdem schleicht sich ganz langsam die Routine ein und damit die Angst vor der Langeweile.

Mae hat viele skurrile Träume. In diesem hat sie einen Baseballschläger und zertrümmert allerlei Dinge.
Screenshot von Videodame

Ein Arm, ein Geist, ein Gott

Die Rahmenhandlung liegt nach dem Fund des abgetrennten Arms lange brach. Beim Harfest (sic!) beobachtet Mae eine Entführung, doch niemand glaubt ihr dies, da niemand vermisst gemeldet wird. Maes seltsamen Träume, rund um Musik und riesige Tiere, scheinen lange ins Nichts zu führen und werden gegen Ende des Spiels doch noch einmal relevant, wenn wir auf Gott und einen menschenopfernden Kult ehemaliger Minenarbeiter treffen.

Ungefähr so abrupt wie ich es gerade zusammenfasse, kommt die Handlung auch im Spiel daher. Sie ist der vielleicht schwächste Teile von Night in the Woods, auch weil sie am Ende des Spiels plötzlich in den Vordergrund tritt, während noch eine Menge Fragen rund um die vier Freunde offen sind. Das Spiel hätte auch ohne die Rahmenhandlung funktioniert und die Figuren bieten genug innere und äußere Konflikte, um locker die doppelte Spielzeit zu füllen. Dass im letzten Drittel des Spiels eine Menge neuer Orte und Lokalgeschichte eingeführt aber kaum ausgebaut werden hilft der Sache nicht.

Fazit

Night in the Woods ist der erste Titel dieses Entwicklerteams und das merkt man ihm leider hier und da an. Die finanziellen Einschränkungen sind noch das kleinste Problem, denn sowohl der Grafikstil als auch die Musik sind traumhaft schön. Allerdings hätte ich mir ein wenig mehr Abwechslung in der Spielmechanik gewünscht (evtl. mehr Minispiele? Ein Nebenjob für Mae?) und die Rahmenhandlung müsste entweder weiter und besser ausgebaut oder fallen gelassen werden.

Als Storygame schneidet Night in the Woods hingegen sehr gut ab: Die Figuren sind glaubhaft, differenziert und interessant und auch die Dialoge sind sehr gut geschrieben. Jede Figur hat eine eigene Stimme. Die Rätsel sind sehr leicht, lockern den Spielfluss aber angenehm auf. Die verschiedenen Lokalitäten um Possum Springs herum werden recht spät eingeführt und hätten mehr Aufmerksamkeit verdient.

Das alles ist aber jammern auf hohem Niveau. Wer an einem in jeder Wortbedeutung schönem Storygame mit richtig guter Musik und einer gewissen Melancholie Freude hat, macht mit Night in the Woods nichts verkehrt. Ich habe mich jedes Mal gefreut nach Possum Springs zurückzukehren und war etwas wehmütig, als es vorbei war. Mit mehr Erfahrung und Ressourcen sehe ich für Infinite Fall großes Potenzial in der Zukunft.

Nach meinem Bewertungsschema erhält Night in the Woods 8 von 10 Punkten. Es ist für Windows, MacOS, Linux, Playstation 4, XBox One und Nintendo Switch erhältlich.

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