Das Genredilemma der Phantastik

Buchhandlung mit diversen Kategoriebildern
Bild von Andi Whiskey via unsplash

Disclaimer: Dieser Artikel beschäftigt sich mit Genres, wie sie in der westlichen Welt verwendet werden. In anderen Kulturkreisen mag die Situation völlig anders sein. Ebenso bezieht sich der Artikel ausschließlich auf die Belletristik, nicht auf andere Medien und Erzählformen.

Die modernen Literaturgenres orientierten sich an der Perspektive der Leser*innen. Ihre Konventionen und Archetypen beschreiben relativ zuverlässig, welche Art von Erfahrung eine Geschichte bietet. Die Grenzziehung zwischen Genres richtet sich nach gemeinsamen Interessen: Gefällt mir eine Geschichte eines Genres, dann gilt das wahrscheinlich auch für andere Geschichten. Umgekehrt gilt oft auch: Gefällt mir eine ähnliche Geschichte, dann gehört sie wahrscheinlich zum gleichen Genre.

Wären Genres nur eine Orientierungshilfe für Leser*innen, wäre das kein Problem. Genres sind in der Literatur jedoch allgegenwärtig und da wir zuerst als Leser*innen mit Geschichten in Kontakt kommen, beeinflussen Genres auch das Textverständnis Schreibender. Da jedes Werk idealerweise in genau ein Genre passen solle, werden Vereinfachungen bis zur Auslassung und Verallgemeinerungen bis zur Falschdarstellung unausweichlich.

Subgenres versuchen dieses Problem zu lösen, indem sie weitere Aspekte einer Geschichte zur Einordnung hinzuziehen: Zeit, Ort, Identität der Protagonist*innen, Grad des Realismus oder die Art des Konflikts. Dieser Ansatz löst das Kernproblem jedoch nicht: Genres beschreiben nicht zwingend ob Geschichten einander inhaltlich und strukturell ähnlich sind, sondern ob sie einen ähnlichen Geschmack treffen.

Unsere Genres sind deshalb fundamental ungeeignet, komplexe Geschichten inhaltlich zu beschreiben, ohne in eine Aneinanderreihung von Etiketten auszuarten. Die etablierten Genres hindern uns daran unsere eigenen Geschichten ganzheitlich zu verstehen.

Dieses Problem können wir nicht mit den gleichen Mitteln lösen, mit denen es erschaffen wurde. Aber wir können lernen damit umzugehen.

Das falsche Werkzeug

Wir verwenden Genres ganz selbstverständlich, um Literatur zu sortieren. Unseren Geschmack drücken wir, außer durch Genres, allenfalls durch Lieblings-Autor*innen oder -Buchreihen aus, welche praktisch synonym mit einem Genre sind. Dabei gibt es nicht einmal eine eindeutige Definition des Begriffs und damit fängt das Problem bereits an:

„Genre“ (französisch für Gattung, vom lateinischen Genus) beschreibt laut Collins Online-Wörterbuch “eine Gattung von Literatur, Malerei, Musik, Film oder einer anderen Kunstform, welche aufgrund bestimmter Charakteristika als zusammengehörig betrachtet wird”.

In der Literatur bezieht sich das Genre auf Handlung, Figuren und Hintergrundwelt einer Geschichte, nicht auf die Form oder Länge des Werks und nur selten auf Präsentation, Erzählstil oder -Perspektive. Die meisten Genres betrachten sogar nur einen Teil dieser Aspekte, sodass eine Geschichte problemlos mehreren Genres angehören kann. Auch hier versuchen Subgenres Klarheit zu schaffen, ohne an der schwammigen Definition etwas ändern zu können.

Problemkind Genre-Fiction

Phantastische Genres sind von diesem Problem besonders betroffen, denn sie beschreiben nicht das Was der Handlung, sondern das Wie. Die drei großen Vertreter der Genre-Fiction – Science-Fiction, Fantasy und Horror – sagen (fast) nichts über Handlung einer Geschichte aus, sondern beschreiben ihre Welt und manchmal ihre Figuren.

Auch dieses Problem entspringt der Leser*innenperspektive, denn ein großer Teil der Lesenden ist an phantastischen Inhalten nicht interessiert. Mit der Einordnung in ein Was-Genre geht die implizite Erwartung des Wie-Genres “Contemporary” einher: Der Handlungsort ist also unsere gegenwärtigen Welt oder nicht weit davon entfernt. Kauft jemand einen Thriller mit einer Zauberin als Protagonistin, ohne dass dies deutlich erkennbar war, würden sich viele Leser*innen getäuscht fühlen.

Der Grund: Die Was-Genres Romantik, Erotika, Krimi und Thriller machen weiterhin den Löwenanteil des Markts für Fiction-Literatur für Erwachsene aus.

Hinter der Einordnung in ein Wie-Genre verschwinden also Handlung und Figuren. So wird nicht nur die Vielfalt phantastischer Literatur unsichtbar, es hält auch Leser*innen fern, die kein Problem mit phantastischen Inhalten haben, diese aber nicht aus eigenem Antrieb konsumieren. Nicht umsonst wurde Stephen King lange unter Suspense geführt, weil dies bei Thriller/Mystery einsortiert werden konnte, statt beim Schmuddelgenre Horror. Etwas ähnliches gelang in jüngerer Vergangenheit dem Subgenre Supernatural Romance.

Subgenres versuchen die Vielfalt der Genre-Fiction abzubilden, aber die schiere Menge möglicher Kombinationen von Figuren, Handlungen und Sekundärwelten macht dies zu einer Sisyphusaufgabe. Außerdem dienen sie erst dann als Orientierungshilfe, wenn eine gewisse Menge zugehöriger Geschichten veröffentlicht wurde. Nischenthemen bleiben außen vor.

Karte von Fiction-Genres
Genremap von Bookcountry

Genre anders betrachten

Unsere Genres versperren somit den Blick auf Konzepte, Handlungen, Figuren und Herangehensweisen außerhalb des etablierten Rasters. Ein Fantasyroman ist ein Fantasyroman ist ein Fantasyroman, selbst wenn uns der Unterschied zwischen Supernatural Romance, Magical Realism, Fairy Tales und High Fantasy geläufig ist. In jedem dieser Subgenres könnte man einen Thriller schreiben und keines davon wiese im Geringsten darauf hin. Der Wust an Subgenres erweckt im Gegenteil den Anschein einer Präzision, die es de facto nicht gibt.

Unerfahrene Schreibende gehen daher ganz selbstverständlich mit der Erwartung an ihre Geschichten heran, dass diese in genau ein Genre passen müssen. Dabei ist es unschätzbar hilfreich, sich der vielen Erwartungen, Konventionen und Möglichkeiten bewusst zu sein, welche die verschiedenen Genre einer Geschichte mit sich bringen. Nur wer die Regeln kennt kann sie sich zu Nutzen machen oder produktiv brechen.

Mit der Erkenntnis, dass jeder Subplot, jedes Kapitel und jede Szene einem anderen Genre angehören kann, eröffnet sich ein neuer Ansatz um zu beurteilen, ob sie ihre Funktion erfüllen und wie sie dies besser tun könnten. Die wenigsten Plots gehören genau einem Genre an, sondern beinhalten einen Genre-Cocktail, dessen genaue Zusammensetzung von Szene zu Szene variiert. Oft genug tritt sogar das Hauptgenre einer Geschichte zeitweilig in den Hintergrund. Aus diesem Kontrast zwischen den Szenen entstehen Struktur, Rhythmus und Melodie einer Geschichte.

Wegweiser Genrekonvention

Erfüllt ein Element der Handlung seine Funktion nicht, kann seine Position im Kontext der anderen Bestandteile beleuchtet werden. Aus der Frage, ob ein Spannungsbogen oder eine Charakterentwicklung vorhanden ist, wird die Frage, ob es die richtigen Bögen und Entwicklungen sind.

Werden die Genrekonventionen berücksichtigt? Nehmen die Figuren eine typische Rolle ein? Schließt die Szene mit einem zufriedenstellenden Beat ab? Hat die Szene überhaupt das richtige Genre, um ihre Funktion in der Geschichte zu erfüllen? Ist sie in die Rahmenhandlung eingebettet oder bricht sie mit ihr? Je mehr dieser Aspekte Schriftsteller*innen kennen und verstehen, desto leichter fällt es zu bestimmen was in einer Szenen umgeschrieben, umgeordnet, besser vorbereitet oder gestrichen werden könnte, wenn sie nicht funktioniert.

All dies setzt allerdings voraus, dass Autor*innen eine Vielzahl von Genres kennen. Es ist jedoch keineswegs erforderlich sie zu meistern. Besonders für Anfänger ist es schon hilfreich zu erkennen, ob ihre Handlung zu komplex ist (zu viele Genres), wo Problempotenzial existiert (widerstrebende Genres) und welche Lösungen sich anbieten (was muss bleiben, was kann raus?). Hier ist weniger oft mehr.

Szenenbasiertes Arbeiten

Wie bei jeder anderen Regel auch, schreibt man durch Betrachtung der Genres alleine keine gute Geschichte. Sie ist ein Werkzeug, um Geschichten zu verstehen, zu verbessern und gegebenenfalls auch zu reparieren. Wie bei jedem Werkzeug, muss der Umgang damit erlernt werden.

Die meisten Schriftsteller*innen sind es nicht gewohnt ihre Geschichten auf so feiner Ebene strukturell zu betrachten. Daher bietet sich für den Einstieg eine methodische Herangehensweise an, welche die Geschichte in Häppchen passender Größe zerlegt.

Meine bevorzugte Methode dafür ist der MICE-Quotient (entwickelt von Orson Scott Card, Autor von u.a. Ender’s Game, mittlerweile eher für seine homophoben Ansichten bekannt). Nach diesem unterteilen sich Geschichten in Konflikte der Kategorien Milieu, Idee, Charakter und Ereignis. Diese Konflikte sollten ineinander verschachtelt sein, das heißt der zuletzt begonnene Konflikt muss abgeschlossen werden, bevor ein zuvor begonnener Konflitk aufgelöst wird. Ein guter deutschsprachiger Überblick zum MICE Quotient findet sich bei Storymonster.

Das geniale an der Arbeit mit dem MICE-Quotient ist, dass die Handlung in nützliche Sinneinheiten für die Genre-Analyse gegliedert wird. Da sich der Genremix eines einzelnen Konflikts kaum verändert und sofort ersichtlich ist welcher Konflikt gerade im Vordergrund steht, gehen die beiden Methoden Hand in Hand.

Kein Allheilmittel, aber auf vielen Ebenen nützlich

Mit wachsender Routine muss die Genre-Analyse nicht mehr bewusst angewandt werden, sondern wird Teil des Schreibprozesses. Das bessere Verständnis der Zutaten einer Geschichte hilft nicht nur beim Schreiben selbst, sondern gibt auch Anhaltspunkte welche Elemente die Geschichte nach außen präsentiert werden sollten, zum Beispiel im Klappentext. Denn wie eingangs festgestellt sind Genres omnipräsent und auch wenn sie sich für viele Zwecke nicht eignen, hilft es ungemein zu wissen, womit man es eigentlich zu tun hat.

Selbst bei der Zuordnung des einen Genres, unter welchem die Geschichte schließlich firmieren soll, ist es nützlich sich der Bestandteilen der Handlung bewusst zu sein. Leser*innen und Verlage honorieren diese Klarheit, Genre-Mixe verkaufen sich erfahrungsgemäß schlechter. Auch wenn der Zombie-Abenteuer-Entwicklungsroman schlussendlich unter “Horror” zu finden sein mag, wird sich die bewusste Auseinandersetzung an anderer Stelle positiv bemerkbar machen.

Es bleibt dabei, dass unsere Genres unzureichend sind. Aber wir können lernen besser damit umzugehen.

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